Ich weiß noch genau, dass unsere Musiklehrerin in der Schule mit uns „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht besprochen hat und ich damals weder von der Inszenierung, noch von dem Inhalt sonderlich begeistert war. Brecht hat sich damals von John Gays „The Beggar’s Opera“ inspirieren lassen und die Entstehung eben jenes Stückes wird nun in „Gegen alle Zeit“ auf interessante Weise beleuchtet, die sogar mich zum Staunen gebracht hat.
Über den Autor (von amazon.de):
Tom Finnek, 1965 in Westfalen geboren, lebt als Filmjournalist und Schriftsteller in Berlin. Als Autor (unter dem Namen Mani Beckmann) beschäftigt er sich schon länger mit historischen Stoffen, insbesondere zum Münsterland. Für ihn ist London mit seiner langen, wechselhaften Geschichte genauso faszinierend wie Berlin. Tom Finnek ist verheiratet und hat zwei kleine Söhne, auf die er sehr stolz ist.
Zum Inhalt:
Henry Ingram, Schauspieler am London Theatre, erwacht nach einer gelungenen Aufführung als Captain Macheath in einem stinkenden, dunklen Loch, welches mehr an einen Kuhstall als an eine Schlafstätte erinnert. Die ganze englische Hauptstadt wirkt über Nacht irgendwie verwandelt und ähnelt mehr dem Stadtbild aus Geschichtsbüchern. Hat die Theater-Crew, während er seinen Rausch ausgeschlafen hat, ein Meisterwerk vollbracht und unzählige Straßen in ein antikes Bühnenbild verwandelt oder ist die Erklärung dafür vielleicht woanders zu finden?
Völlig orientierungslos sucht er das Gespräch zu seinen Mitmenschen und trifft eine zwielichtige Gaunerbande, bestehend aus Huren und Beutelschneidern, die auf dem Weg sind den berüchtigten Jack Sheppard aus dem Gefängnis zu befreien und Henry soll dabei helfen..
Wurde Ingram tatsächlich dreihundert Jahre in die Vergangenheit geschickt oder ist das alles nur ein besonders schlimmer Kater?
Als er zufällig Blut an seinen Händen riecht, kommt langsam die Erinnerung an seinen letzten Abend in der Gegenwart bzw. Zukunft zurück und damit ein furchtbarer Verdacht: hat er einen Mann getötet, der seine Freundin erobern wollte? Ist die Zeitreise eine Strafe für die Tat oder hat Henry eine andere Aufgabe vor sich, die vielleicht sogar mit der noch nicht geschriebenen Bettlersoper zusammenhängt?
Größte Priorität hat aber erst das Überleben, denn im 18. Jahrhundert gelten härtere Regeln.
But now see it is time for us to withdraw; the Actors are preparing to begin. Play away the Overture. Aber jetzt ist es Zeit, dass wir uns zurückziehen; die Schauspieler bereiten sich vor anzufangen. Spielt die Ouvertüre. John Gay, The Beggar’s Opera, EinführungMeine Meinung:
Wer den ersten Teil der London-Reihe („Unter der Asche“) schon kennt, darf sich auf ein Wiedersehen mit Geoffrey Ingram freuen. Geoff ist erwachsen geworden und hat sich durch sein Gerede über den Brand von London allerdings unbeliebt gemacht, da niemand seinen Berichten lauschen möchte und das Feuer vergessen will. Er hat sich nebenbei auch mit den falschen Leuten angelegt und daraufhin ein Bein verloren, wodurch er nun mit einem Holzbein durch die „Slums“ von London geistert und seinem Ruf als „Irrer Geoff“ mit Tratsch und Klatsch gerecht wird.
Der Roman ist in sieben Abschnitte eingeteilt und jeder wird aus einer anderen Sicht erzählt. Durch die Perspektivenwechsel bekommen wir eine schöne Einsicht in jede Gesellschaftsschicht, da nicht nur die Hure Bess oder der Streuner Blueskin, sondern auch das Leben des ehrwürdigen Maestro Pepusch, der die Musik und John Gay, der den Text für die Oper lieferte, beleuchtet.
Tom Finnek gelingt es durch eine gute Mischung aus historischen Material, wie Beschreibungen der Kleidung der Menschen und deren hygienischen Zustand, sowie Henrys neuzeitlichem Denken, den Ton der Zeit zu treffen und dabei aber nicht zu altbacken zu werden. Durch seine gute Recherche zum Räuber Jack und seinen Anhängern (die im Nachwort noch einmal deutlich wird) bleibt er zwar weitestgehend an den historischen Fakten, dennoch könnte „Gegen alle Zeit“ ebenso ein Abenteuer-Roman sein, da durch diverse Verfolgungsjagden richtig Schwung in die alten Gassen kommt.
Ich habe mich jedenfalls keineswegs gelangweilt, was bei historischen Romanen nicht selten vorkommt und mit den straffälligen Protagonisten mitgefiebert, was nicht zuletzt daran liegt, dass das Gesetz in diesem Falle eher die Rolle der Bösewichte zuzuordnen wäre.
Außerdem schwebt die Frage nach Henrys Verbleib über allem und die Leser werden zum Schluss selbst schwanken zwischen bleiben und gehen, denn in dem ganzen Chaos entwickelt sich sogar eine kleine Liebesgeschichte – mit wem wird aber nicht verraten. 😉
Mein Highlight war ein „Ausflug“ in das Irrenhaus Bedlam („Bethlem Royal Hospital“), der super Vorlagen für mein Kopfkino lieferte und mit Witz, Spannung und schriftstellerischem Geschick aufwartete. Die Tatsache, dass Besucher gegen ein kleines Eintrittsgeld die Patienten schikanieren konnten, war dazu ein interessantes Zusatzwissen, was die Frage erlaubt, wer nun normaler ist..
Erwähnen möchte ich auch noch die wunderschönen Illustrationen von Tina Dreher zu Beginn der Kapitel, die trotz (oder wegen?) der schwarz-weißen Schattierungen sehr aussagekräftig sind und die passende Stimmung zu den Szenen verbreiten.
London war wie immer ein perfekter Schauplatz für ein Buch und vielleicht verschlägt es mich bei einem Besuch in Übersee sogar in das London Theatre zu einer Aufführung von Captain Macheath und seinen Freunden. 🙂
Gebundene Ausgabe: 541 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (Lübbe Ehrenwirth); Auflage: 1 (25. November 2011)
ISBN Nummer: 978-3431038439